„Ich rannte. Ich rannte, bis meine Muskeln brannten und durch meine Venen Batteriesäure schoss. Dann rannte ich weiter.“ Die Beute im Blick. Sie springt hoch. Immer wieder, um sich im hohen Gras zu orientieren, um voran zu kommen. Durchatmen. Richtung ändern. Völlig im Moment. Der Fokus steht auf Jagd. Kein Gedanke der mich ablenken könnte. Immer im Kontakt mit der Umgebung. Ich atme die gleiche Luft, ich spüre den gleichen Untergrund, ich höre die gleichen Geräusche. Zu einem Raubtier werden. Wer da draußen langfristig bestehen will braucht tierische Proteine. Und das seit über 200 000 Jahren.
Unser Körper ist perfekt für die Ausdauerjagd angepasst. Während die Beute nur die kleine Oberfläche ihrer Zunge zum kühlen hat, haben wir die ganze Körperoberfläche. Unsere Fähigkeit zu schwitzen ist einer unserer größten Evolutionsvorteile.
Genauso wie das energieeffiziente Laufen. Was für viele sich selbst als zivilisiert bezeichnende Menschen ärgerlich ist, war für Jäger- und Sammlerkulturen schon immer überlebenswichtig: Beim Laufen verbrennen wir wenig Energie. Ein Grund für die Energieeffizienz beim Laufen ist unsere optimierte Anatomie. Insbesondere der Fuß. Das Fußgewölbe wirkt zusammen mit der Achillessehne wie eine Sprungfeder, die beim Auftreten Energie aufnimmt und beim Abstoßen wieder abgibt. Der Mechanismus funktioniert natürlich nur, wenn sich die Füße frei bewegen können und nicht in Schuhe einbetoniert werden.
Nachdem ich „Born to run“ gelesen und mich durch die Publikationen von Daniel Lieberman gearbeitet hatte, war ich voller Euphorie. Ich wollte sofort loslegen und barfußlaufen gehen. Meine kleine tägliche Laufstrecke betrug damals etwa sechs Kilometer. Ich ließ die Schuhe zu Hause stehen und los ging es. Die ersten zwei bis drei Kilometer waren herrlich. Der Boden unter meinen Füßen fühlte sich an diesem Sommertag angenehm warm an und ich spürte jede kleinste Unebenheit. Wie von Lieberman beschrieben änderte sich auch sofort intuitiv mein Laufstil. Während ich mit klassischen Joggingschuhen mit jedem Tritt auf der Ferse landete, setzte der Fuß ohne Schuhe direkt vorne auf dem Ballen auf. Und voilà, die Sprungfederwirkung kam zum Tragen. Dies führte dann auch ab Kilometer vier dazu dass meine Waden brannten. Auf einmal wurden Muskeln beansprucht, die vorher kein Training erlebten. Langsam begannen auch meine Fußsohlen zu schmerzen. Bin ich irgendwo reingetreten? Ich stoppte und schaute sie mir genau an. Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass sich Blasen in der Haut meines Vorfußes gebildete hatten, sodass ich meine ersten „Barfußlaufversuche“ abbrechen musste. Daraus habe ich etwas Wichtiges gelernt: Langsam an-gehen. Schritt für Schritt.
Ein weiterer wichtiger Evolutionsvorteil von Homo sapiens ist es, sich an ändernde Umweltbedingungen schnell anpassen zu können. Fettspeicher und Muskelmasse können je nach Ressourcen und Bedarf schnell auf und ab gebaut werden. So ist es auch mit der Hornhaut am Fuß. Nachdem die Blasen verheilt waren begann ich jede Gelegenheit zu nutzen barfuß zu laufen, um meine Hornhaut zu trainieren. Das lohnt sich. Nicht nur für Organspender. Smiley.
Ich kürzte meine Laufstrecke vorerst auf drei Kilometer runter und begann dann sukzessive die Strecke wieder zu verlängern und den Untergrund zu variieren. Angefangen auf Wiese und Teer, kamen schnell Feldränder und feingeschotterte Wege dazu. Dabei merkte ich, dass auf einmal nicht mehr alleine meine Ausdauerleistungsfähigkeit meine Geschwindigkeit bestimmte, sondern auch der Untergrund. Pulsuhr und Geschwindigkeitsmessung machten keinen Sinn mehr. Die Technik blieb zu Hause und ich begann in mich hineinzufühlen und auf mein Laufgefühl zu hören.
Immer wieder sieht man Sportler, die mit neuster Technik versuchen weiter ihre Leistung zu verbessern. Da werden mit Smartphones und Spezialuhren alle Parameter genau vermessen und die Sportler vergleichen sich untereinander. In vielen Fällen führt das zu Frust. Scheinbar sind die Läufer am besten, die auch die besten Messwerte vorweisen können. Doch das stimmt nicht. Denn wer verbissen versucht hinter Spitzenleistung herzujagen verliert die Freude am Laufen. Einer der stärksten Bedürfnisse des Menschen ist es, sich gut zu fühlen. Im Sport haben wir uns in eine Richtung entwickelt, in der man sich scheinbar nur gut fühlen darf, wenn man top Leistungen erzielt hat. Siege zu feiern ist, ohne Frage, schön und wichtig. Doch auf dem Weg dorthin, sollte die Freude nicht verloren gehen.
In vielen Lifestyletrends zu Ernährung, Sport, sexuellen Identität, Berufswahl und Alltagsgestaltung kann man den Versuch erkennen ein Stück Ursprünglichkeit und Naturnähe zurück zu gewinnen, die wilde Seite in einer scheinbar freiheitsberaubenden Gesellschaft auszuleben. Dieses Bedürfnis ist wohl tief in uns verwurzelt. Dabei meine ich mit wilder Seite das, wie Robert Bly Eisenhans beschreibt: „Die Energie des Wilden Mannes befähigt zu kraftvollem Handeln, das nicht brutal, sondern entschlossen ist. Der Wilde Mann steht nicht im Gegensatz zur Zivilisation; aber er geht auch nicht völlig in ihr auf.“ Beim Barfußlaufen, egal ob Mann oder Frau, kommen wir in ultimativer Weise in den Kontakt mit unserer wilden Seite.
Oft werde ich gefragt, ob man sich nicht schnell am Fuß verletzt, zum Beispiel beim Tritt in Scherben. Seit dem kleinen Malheur beim aller ersten Barfußlauf habe ich mich nie wieder verletzt! Ganz im Gegenteil! Früher hatte ich Probleme mit den Bändern am Fuß und bin oft umgeknickt, hatte Knieschmerzen. Das ist mir barfuß nicht mehr passiert. Dadurch dass der nackte Fuß empfindlicher ist als der Schuh, lernte ich mit der Zeit den Untergrund besser zu beobachten, meinen Fokus auf die nächsten Schritte zu richten, statt gedanklich abzuschweifen.
In unserer geschäftigen Zeit suchen viele einen Ausgleich in Entschleunigung, egal ob Yoga, Bushcraft, Singen im Chor oder Klettern. Den Alltag vergessen und achtsam den Moment erleben. Beim Barfußlaufen funktioniert das perfekt. Wenn ich loslaufe, ohne Zeitdruck, den Boden unter meinen Füßen spüre, die Waldluft rieche, das Wetter wahrnehme und mir bekannte Pflanzen am Wegesrand pflücke und schmecke, dann kann ich mir jedes Seminar zu Achtsamkeitsübungen sparen und trotzdem voller Achtsamkeit durch den Tag gehen. Barfüßig bin ich viel leiser unterwegs und kann so auch viel mehr Tieren im Wald nahe kommen. Einmal bin ich fast über zwei Rehe gestolpert, die mich erst im letzten Moment entdeckten.
Barfußlaufen ist nicht nur ein Evolutionsvorteil von uns Menschen, sondern auch die physiologischste Art der Fortbewegung, ein Gefühl von Freiheit, Lebensfreude, die Möglichkeit unsere wilde Seite zu leben und durch Achtsamkeit das Leben zu bereichern. Das ganze gibt es im Komplettpaket und das Beste: es ist kostenlos! Dazu müsst ihr nur die Schuhe ausziehen und los geht’s. Sammelt Erfahrungen und teilt sie mit anderen. „Lasst die Dinge einfach laufen.“