Überleben in der Deutschen Bahn

Was als schönes Naturwochenende begann, endete in einem blutigen Fiasko.

An dem warmen Sommerwochenende 8./9. Juli 2023 war ich mit einer Freundin zum Birden in der Rostocker Heide. Wir haben zahlreiche Neuntöter beobachten können und das erste Mal einen Wachtelkönig mit seinem charakteristischen „crex-crex“, als würde ein Kamm zweimal über eine Tischkante gezogen werden, singen gehört. Beim Abendansitz mit dem Fernglas hatten wir auch zahlreiches Schwarz-, Rot- und Rehwild im Anblick. Es war ein wundervoller Ausflug, von dem ich nach einem Abstecher zum Ostseestrand am Sonntagabend mit dem RE 5 zurück nach Berlin fahren wollte. Wie so oft im Sommer hatten viele Hauptstädter das sonnige Wetter für ein paar Tage an der Küste genutzt. Entsprechend überfüllt war der Zug. Jeder Platz war belegt, die Passagiere saßen auf den Treppen und standen in den Fluren. Es war kaum mehr ein Durchkommen möglich.

Kurz vor 19 Uhr blieb der Zug bei Birkenwerder auf offener Strecke stehen. Es ruckelte nochmal, doch nach wenigen Metern blieb er endgültig liegen. Der Strom fiel aus und damit auch die Klimaanlage. Und so nahm das Unglück seinen Lauf! Der Sonntag war bis dahin mit 37 Grad der heißeste Tag des Jahres und es hatte immer noch 30 Grad draußen. Unmittelbar nach Ausfall der Klimaanlage stieg die Temperatur im Zug. Später hatte die Feuerwehr sogar 50 Grad im Zug gemessen.

Die Menschen begannen sich Luft zuzufächeln. Es kam Beklemmung auf. Für viele ist Bahnfahren in einem überfüllten Zug schon stressig. Jetzt auch noch scheinbar gefangen in einer Blechröhre die immer heißer wurde! „Wie lange reicht der Sauerstoff?“ Der Stress und die Atemfrequenz stieg.

Die Lok habe einen Schaden und wir müssten abgeschleppt werden, hieß es in einer Durchsage vom Zugführer. Weitere hilfreiche Informationen Seitens der Mitarbeiter der Deutschen Bahn hat es an diesem Abend nicht mehr gegeben.

Es waren seit dem Liegenbleiben noch keine fünf Minuten vergangen, da erinnerte ich mich an einen Artikel aus dem Tagesspiegel, in dem ein mitreisender Autor die Havarie des RE 2 in Berlin-Wuhlheide beschrieb: „Klimaanlagenausfall, Lokschaden, weinende Kinder, kein Wasser, aggressive Passagiere – dann eine Evakuierung auf offener Strecke.“

Nach dem Lesen des Artikels zwei Wochen zuvor, hatte ich mich gefragt, wie ich wohl in einer solchen Situation reagieren würde!? Sollte es dieses Mal auch so heftig werden? Ich war mir noch unsicher. Es kam schlimmer!

Innerlich darauf vorbereitet, dass die Situation bald eskalieren könnte, entschied ich mich erstmal etwas zu trinken und aufs Klo zu gehen. „Wenn wir hier länger stehen bleiben, würde bei so vielen Menschen das WC bald nicht mehr benutzbar sein!“ Ich schloss die Türe hinter mir und erlebte etwas Einmaliges bei der Deutschen Bahn: Die Luftqualität auf der Toilette war besser als im Abteil! Hier war es mittlerweile kaum mehr erträglich und einige Fahrgäste versuchten verzweifelt die Fenster zu öffnen die mittels Vierkantschlüssel verschlossen waren. Ich zwängte mich durch bis ins Fahrradabteil, um dort nach Werkzeug zu fragen. Mit einem Multitool gelang es dann die Fester zu öffnen, was eine erste Erleichterung brachte.

Doch die Anspannung stieg im Verlauf wieder. Dazu trugen mehrere Faktoren bei: Durch das Verdunsten von Schweiß auf der Haut wird normalerweise der Körper gekühlt, da der Übergang des Aggregatszustandes von flüssig in gasförmig Energie benötigt. Doch im Zug stieg nicht nur die Temperatur, sondern auch die Luftfeuchtigkeit. Je stärker die Luft mit Feuchtigkeit gesättigt ist, desto weniger Wasser kann verdunsten, und somit auch nicht mehr kühlen. Teilweise war der Boden im Zug schweißnass. Mit der Zeit gelang es zunehmend schlechter die Körpertemperatur zu regulieren.

Sauerstoff war in der Luft ausreichend vorhanden. Bei der Ausatmung wird jedoch Kohlendioxid abgegeben, sodass der Spiegel davon in der Luft im Abteil anstieg. Dieser ist ausschlaggebend für den Atemreiz. Je mehr CO2 in der Luft ist um so schneller und flacher wird die Atmung. Man hat den Eindruck, nicht genug Luft zu bekommen.

Neben diesen direkt körperlich wirksamen Urstressor kamen bei einigen Passagieren stressfördernde Gedanken hinzu. Wegen Kreislaufproblemen kam es zum Kollaps einzelner Personen, was die angstfördernden Gedanken bei anderen verstärkten. Vereinzelt kam Panik auf. Keine Massenpanik, sondern punktuelles Bedrohungserleben, während es anderen gelang entspannt zu bleiben.

Kreislauf der Angst

Nach und nach öffneten Mitreisende die Türen um für bessere Durchlüftung zu sorgen. Dazu musste eine kleine Gasscheibe eingeschlagen werden und ein darunter liegender roter Knopf gedrückt werden. Dann hat sich mit einem Hebel die Tür öffnen lassen. Dieses Prozedere hört sich erstmal einfach an, ist unter Stress jedoch nicht leicht umzusetzen. An manchen Türen wurde panisch immer wieder an dem Hebel gezogen ohne dass der Knopf gedrückt wurde: Die Türe blieb verschlossen. Dies verstärkte wiederum die Panik und es begannen Passagiere die Fensterscheiben mit Nothämmern einzuschlagen. Als dies nicht recht gelang, wurde begonnen die Scheiben mit den Füßen einzutreten. Dabei trat sich ein Mann Scherben in den Fuß, was zu einer venösen Blutung führte.

Nach und nach evakuierten sich die Fahrgäste selbst, da zunächst niemand von außen zur Hilfe kam. Später wurde in den Medien berichtet, dass die Bundespolizei erst rund 20 Minuten nach der Havarie informiert und die Feuerwehr Birkenwerder erst um 19:33 Uhr alarmiert wurde. Von einem Zugbegleiter war zu diesem Zeitpunkt keine Spur zu sehen.

Wir waren als Passagiere auf uns selbst gestellt. Einige begannen durch die geöffneten Türen den Zug zu verlassen und über die Gleise zu gehen. Hier wird die Zwickmühle der Situation deutlich. Im Zug herrschten schwer erträgliche Temperaturen, draußen bestand die Gefahr aus fahrenden Zügen und den Stromschienen der Berliner S-Bahn mit 750 Volt. Was zum Glück nicht der Fall war, jedoch auch ein potentielles Risiko in solchen Situationen darstellt: Herabgefallene Oberleitungen, die noch Strom führen. Zu diesen sollte mindestens 1,5 Meter Abstand eingehalten werden. Der Zugführer sagte mir später, dass der Grund für die Havarie ein abgerissener Stromabnehmer gewesen sei. Leitungen hätten also durchaus gefährlich werden können.

So leerte sich nach und nach der Zug und ich wurde auf den Verletzten aufmerksam. Er hatte sich ein Handtuch um den Fuß gewickelt, sich hingelegt und das Bein hochgehalten. Ich habe einen Mitarbeiter der Bahn, der just in diesem Moment vorbeikam, darum gebeten mir einen Verbandkasten zu bringen. Seine Antwort bevor er weiterging: „Sowas haben wir hier nicht!“

Also Plan B: Ich drängte mich durch die Menschenmassen zurück zu meinem Rucksack, holte ein kleines einvakuumiertes Erste-Hilfe-Set und versorgte den Verletzten.

Nach und nach kamen immer mehr professionelle Helfer: Bundespolizei, Feuerwehr, Rettungsdienst, Notarzt und der Notfallmanager der Deutschen Bahn. Der Katastrophenschutz brachte kistenweise Wasser, der Verletzte kam in die Klinik und Rollstuhlfahrer wurden aus dem Zug getragen.

Ende gut, alles gut? Diese Erfahrung hat mich nachdenklich zurückgelassen. Ich habe davor und danach immer wieder Medienberichte über vergleichbare Vorfälle diesen Sommer in Deutschland gelesen. Durch den fortscheitenden Klimawandel werden sehr heiße Tage und Stromausfälle wahrscheinlicher und durch die versuchte Verkehrswende die Züge voller. Was lässt sich aus der Erfahrung für die Zukunft lernen?

Züge sind nicht sicher bei Hitzeereignissen mit Stromausfall. Viele Zugmodelle haben mittlerweile keine Fenster mehr, die sich öffnen lassen. Das Mitführen von Vierkantschlüssel zum Öffnen von Fenstern als Passagier lohnt sich auch deswegen nicht, da in unterschiedlichen Zugtypen verschiedene Schlüssel verwendet werden. Also im Zweifel Fahrradfahrer nach dem Werkzeug fragen.

Die Deutsche Bahn veröffentlichte am folgenden Tag eine Pressemitteilung: "Wenn ein Zug wie gestern bei Birkenwerder nicht mehr weiterfahren kann, greift unser Notfallmanagement. Unsere Mitarbeitenden sind dafür gezielt geschult und sind erfahren mit den erforderlichen Abläufen."

Da während der „heißen Phase“ der Havarie kein Bahnpersonal z.B. durch das Öffnen von Fenstern, Beruhigen, Verteilen von Wasser, Durchsagen mit klaren Verhaltensanweisungen etc. da war, scheint die Schulung entweder nicht ausreichend zu sein, oder die Mitarbeiter haben nicht danach gehandelt. Auf eine Anfrage von mir, wie genau das Personal für solche Situationen ausgebildet ist, kam eine eher unbefriedigend-allgemein gehaltene Antwort zurück:

„Die Sicherheit der Reisenden hat immer höchste Priorität. Ziel ist es, alle Reisenden schnellst- und bestmöglich entweder in andere Züge zu bringen oder alternativ sicher weiterreisen zu lassen.

Bleibt ein Reisezug auf freier Strecke liegen, prüfen alle DB-Einheiten (Betriebszentrale von DB Netz, Leitstelle von DB Regio und Zugpersonal) gemeinsam, ob und in welchem Zeitraum eine Weiterfahrt bis zum nächsten Bahnhof möglich ist. Der Lokführer versucht zunächst immer, den Zug wieder zum Fahren zu bringen. Ist dies nicht machbar, muss der Zug evakuiert werden. Ziel ist es, die Reisenden im betroffenen Reisezug schnellstmöglich an ihr Ziel zu bringen und den Zugverkehr wiederaufzunehmen.

Dabei unterstützt ein so genannter Notfallmanager bei der Evakuierung mit seiner/ihrer Fach- und Ortskenntnis und sorgt für den Schutz vor Gefahren aus dem Bahnbetrieb (z.B. durch Abschalten des Stroms oder Sperrung der Strecke für andere Züge). Bei einer Evakuierung muss sichergestellt sein, dass der übrige Bahnverkehr im Gleisbereich gestoppt ist und die Oberleitung bzw. Stromschiene keine Gefahr darstellt.“

Auf meine Anfrage bei der Bundesstelle für Eisenbahnunfalluntersuchung (BEU), ob der Vorfall dort untersucht werde, habe ich folgende Antwort erhalten:

„Verpflichtet, eine Untersuchung aufzunehmen, ist die BEU nur nach schweren Unfällen. Die einschlägige europäische Richtlinie stuft einen Unfall beispielsweise dann als schwer ein, wenn bei einem Zusammenstoß oder bei einer Entgleisung von Zügen ein Mensch getötet oder mindestens fünf Menschen schwer verletzt wurden. Wenn indes ein Unglück nach der Definition der Richtlinie nicht als schwer gilt, entscheidet die BEU im Einzelfall darüber, ob sie in eine Untersuchung einsteigt. Zu dem von Ihnen geschilderte Ereignis wurden keine Untersuchungen eingeleitet. Grundsätzlich sind - unabhängig von behördlichen Untersuchungen - die Eisenbahnen verpflichtet gefährliche Ereignisse im Eisenbahnbetrieb zu untersuchen und ggf. notwendige Maßnahmen zu ergreifen.“

Ob es wirklich eine Aufarbeitung geben wird ist unklar. Die Untersuchungsberichte der BEU sind öffentlich einsehbar, die internen Ergebnisse der Bahn nicht.

Es ist sicher hilfreich zunächst den Anweisungen der Bahnmitarbeiter zu folgen. Erfolgen diese jedoch nicht oder sind nicht geeignet die Gefahr abzuwenden, gilt es proaktiv selbstverantwortlich zu handeln. In den deutschen Fernverkehrszügen wird Wasser für den Fall einer Havarie mitgeführt. Ein Erste-Hilfe-Koffer steht im Fahrerraum bereit und jeder Zugbegleiter sollte ein kleines Set bei sich in der Tasche haben. Trotzdem sollte jeder ausreichend Wasser und ein kleines Erste-Hilfe-Set im Reisegepäck dabei haben.

Gut zwischen den beiden Gleisen zu erkennen sind die Stromschienen der Berliner S-Bahn. Die weiße Abdeckung nach oben und zur Seite schützt nur bedingt gegen Stromschlag.

Im Notfall gilt: Nimm dir einen Moment Zeit um die Situation zu bewerten. Primäres Ziel ist es im doppelten Sinne einen kühlen Kopf zu bewahren. Kippfenster sollten so schnell wie möglich geöffnet werden. Helft euch gegenseitig und kommt miteinander ins Gespräch. Ein Gruppengefühl senkt den Angstpegel. Türen sollten rechtzeitig und in Ruhe geöffnet werden. Idealerweise steht an jeder offenen Türe eine Person die in ruhiger und bestimmter Weise darauf achtet, dass vorerst niemand aussteigt. Menschen die sehr ängstlich angespannt sind, sollten an eine offene Tür gebracht und zu Atemübungen angeleitet werden. Ein sicherer Rückzugsraum für vulnerable Personen wie Mütter mit Säugling kann im absoluten Notfall die Toilette sein, wenn dort das Fenster geöffnet ist. Wer sich hier einschließt, hat erstmal genug Luftaustausch.

Mit diesen einfachen Maßnahmen gelingt es vielleicht, die Situation zu deeskalieren, damit es keine Verletzten gibt und alle sicher evakuiert werden können.

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